Lateinamerika gilt als eine der gewalttätigsten Regionen der Welt. Zu recht, wenn man die Opferzahlen betrachtet. Zwar hat es seit der Unabhängigkeit nur relativ wenige grenzüberschreitende Kriege gegeben, doch leben einige Staaten in nahezu permanentem Bürgerkrieg. Und die Formen institutioneller Gewalt, die auf mehr oder weniger subtile Art bestehende Machtverhältnisse absichern, haben die Gesellschaften zwischen Río Bravo und Magellanstraße seit Generationen fest im Griff. Wirtschaftliche Eliten, die sich in ihrer zerstörerischen Lebens- und Arbeitsweise weder von der Moral, noch von der Klimakatastrophe beeindrucken lassen, wissen das staatliche Gewaltmonopol auf ihrer Seite. Menschen, die sich Megaprojekten, der Ausbeutung von Rohstoffen, Landraub oder der Umweltverheerung entgegenstellen, und jene, die in ihren Medien darüber berichten, sind die sichtbarsten Opfer. Dass sich einige Regimes bei der Gewaltanwendung auf die Verteidigung linker Ideologien berufen, wie in Kuba, Venezuela oder Nicaragua, ist ein trauriges Detail.
Solange kein gesellschaftlicher Konsens dem entgegensteht, werden Interessenkonflikte mit Gewalt ausgetragen werden, sei es auf zwischenstaatlicher Ebene oder in der Familie. In Zentralamerika, wo der Drogenhandel blüht und Bandenkriege toben, werden kaum Alternativen zu Gewalt und Gegengewalt angedacht. El Salvadors Nayib Bukele erfreut sich großer Popularität, weil er Bandenmitglieder ohne Rücksicht auf Kollateralschäden bei Menschenrechten und Rechtsstaat hinter Gitter bringen lässt. In Brasilien jubeln große Teile der Bevölkerung dem Gewalt verherrlichenden Präsidenten Jair Bolsonaro zu und fordern jetzt das Einschreiten der Armee gegen die bevorstehende Amtsübernahme durch den Wahlsieger Lula da Silva.
Ebenso bahnbrechend wie riskant ist der Ansatz des neuen kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro, den „totalen Frieden“ anzustreben, also mit allen bewaffneten Gruppen den Frieden zu suchen. Flankiert wird der Plan vom schrittweisen Ausstieg aus der fossilen Energie und der Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes als Friedensdienst. Friedenserziehung soll aus der Logik der Gewalt herausführen. Petros hohe Popularitätsraten nach 100 Tagen im Amt beweisen, dass solch ein neues Verständnis vom Umgang mit Konflikten und Widersprüchen längst fällig war.
Ralf Leonhard
Inhalt
(ÜBER)LEBEN MIT DER GEWALT | |
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Die vielen Gesichter der Gewalt von Hermann Klosius | S. 4 |
Brasilien: Mütter in den Favelas sagen „Nein zum Mord“ Von Laís Martins | S. 6 |
Kolumbien: Umfassender Friede Von Ralf Leonhard | S. 9 |
Blutiges Jubiläum Von Jürgen Kreuzroither | S. 11 |
Mexiko: „Die Armee ist nicht bereit, sich auf die Anklagebank zu setzen“ Interview mit Vidulfo Rosales Von Fernando Romero-Forsthuber | S. 12 |
Gegen Femizide und Frauenhass in Ciudad Juárez Von Kathrin Zeiske | S. 14 |
Nicaragua: Sippenhaft und Folter Interview mit Berta Valle Otero Von Ralf Leonhard | S. 16 |
Stiefelgeräusche in Haiti Von Frédéric Thomas | S. 19 |
Multis zwingen Lateinamerika ihr Recht auf Von Sergio Ferrari | S. 20 |
AKTUELLES & ANALYSE | |
Brasilien: „Der Lula von heute ist nicht mehr der Lula von 2003“ Interview mit Ivo Lesbaupin Von Ralf Leonhard | S. 22 |
„Bis zum Abgrund fehlte nur ein winziger Schritt“ Interview mit Flávia Silva Von Jürgen Schübelin | S. 24 |
Honduras: Xiomaras große Herausforderung Von Noé Leiva | S. 26 |
„In Chile gibt es keine Mehrheit zur Überwindung des Neoliberalismus” Interview mit Jorge Sharp Von Guido Vassallo | S. 28 |
Bolivien: Zurück zur Politiquería? Von Robert Lessmann | S. 30 |
Uruguay: Skandale und Skandälchen Von Roberto Kalmar | S. 32 |
KURZNACHRICHTEN | S. 33 |
BUCHBESPRECHUNGEN: Timo Dorsch u.a. (Hg.): Geographie der Gewalt; Djamila Ribeiro: Wo wir sprechen; Barbara Rupflin: Umkämpfte Menschenrechte; Maximilian Held: Indigene Resistencia; Kai Ambos, Stefan Peters (Eds.): Transitional Justice in Colombia; Sebastian Garbe: Weaving Solidarity | S. 35 |
Der Unersetzliche Nachruf auf Ricardo Loewe Von Erich Hackl | S. 39 |
Impressum | S. 40 |
Mitteilung der Redaktion
Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Nach langem innerredaktionellem Ringen haben wir einen Entschluss gefasst, der wohl auch bei einigen unserer langjährigen Abonnent:innen Wehmut auslösen wird. Sie halten mit dieser Ausgabe die vorläufig letzte Nummer von lateinamerika anders in gedruckter Form in Händen. Wir wollen ab dem kommenden Jahr die Veröffentlichung unserer Inhalte auf die – noch aufzurüstende – Website (https://lateinamerika-anders.org) beschränken. Die Gründe lassen sich in drei wesentlichen Punkten wiedergeben:
- die laufende Berichterstattung auf einen monatlichen Takt beschleunigen, die bisherigen vier Schwerpunkte pro Jahr beibehalten, künftig unter der Rubrik „Thema“, Rezensionen und Veranstaltungshinweise zeitnäher weitergeben können.
Wir setzen darauf, dass die Beweggründe für die Erscheinungsänderung für Sie nachvollziehbar sind. Wir hoffen außerdem, mit dieser Fortsetzungsankündigung die verschiedentlich provozierte Wehmut einzugrenzen und neue Perspektiven aufzeigen zu können. Konkret werden wir uns nach erfolgter Umstellung im Februar/März wieder bei Ihnen melden.Wir bedanken uns für Ihre oftmals vieljährige Treue und hoffen, dass Sie uns auch in der neuen Form weiter Vertrauen schenken. Wenn Sie uns die Umstellung durch einen finanziellen Beitrag erleichtern können, freuen wir uns über Ihre Spende unter dem Kennwort „Umstellung“ (Kontodaten siehe Heftrückseite).Mit solidarischen Grüßen
Das IGLA-Team
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